Missverständnisse beruhen auf Gegenseitigkeit. Das gilt auch transatlantisch für Europa und die USA, wenn es um die Gestaltung des Gesundheits-wesens geht. Zu diesem Schluss kam der ehemalige Bundes-gesundheitsminister Daniel Bahr, während seiner Tätigkeit als Senior Fellow beim Center for American Progress, wo er u.a. das amerikanische und das deutsche Gesundheitswesen verglich. Über die Ergebnisse dieses ‚Kulturvergleichs’ berichtete Bahr bei einer Veranstaltung des Transatlantischen Dialogprogramms der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Washington, DC.
Laut Bahr, wurde die Diskussion über die Reform des US-Gesundheitswesens auf deutscher Seite mit Unverständnis beobachtet. Krankenversicherungen würden in Deutschland im Gegensatz zu den USA als selbstverständlich angesehen. Zu vergleichen sei Obamas Reform jedoch mit dem Fall, dass der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, in den EU-Staaten eine umfassende Reform des Gesundheitswesens anstoßen würde. Juncker wäre in Europa in einer vergleichbaren Situation wie Obama in den USA. Um Systeme zu vergleichen, solle man nicht Deutschland, sondern die EU mit den USA vergleichen, so Bahr.
Umgekehrt werde in den USA die Vielfalt der Systeme in den europäischen Ländern nicht wahrgenommen. Das Klischee von der „sozialisierten Versorgung“ in Europa gehe an der Wirklichkeit vorbei. Das zeige der Vergleich zwischen dem nationalisierten „Single-payer-System“ in Großbritannien und dem deutschen System. In Deutschland bestehe für den Bürger die freie Wahl von Versicherung, Arzt, Krankenhaus und Therapie. Von Sozialismus könne nicht die Rede sein.
Mit Blick auf Großbritannien und Deutschland erläuterte Bahr seine Grundsatz-position. Für die Gesundheitsversorgung sei weder ein rein marktwirtschaftliches, noch ein rein öffentliches System angemessen. Der Patient ist auf Behandlung angewiesen; insofern sei die ökonomische Voraussetzung für einen ‚perfekten’ Markt nicht gegeben. Deswegen müsse eine Grundversorgung gewährleistet sein. Auf der anderen Seite sollten die ‚typischen’ Nachteile staatlicher Lösungen vermieden werden – wie etwa: Verlust der Wahlfreiheit, Rationierung und Verlangsamung von Innovationen. Insgesamt komme es auf „die richtige Balance“ an – so Bahr wörtlich. Als Minister sei es deshalb sein Ziel gewesen, im ‚gemischten’ deutschen Gesundheitswesen „die richtigen Anreize zu setzen, um die richtige Balance zu finden.“ Dabei stelle der medizinische Fortschritt und die Alterung der Gesellschaft das deutsche Gesundheitswesen vor eine besondere Herausforderung.
Beispielhaft ging Bahr auf die Steigerung der Arzneimittelausgaben ein. Hier gehe es um die Balance zwischen Bezahlbarkeit und Innovation. Im deutschen System setzen die Pharmaunternehmen den Preis für neue Medikamente fest; sie sind aber auch verpflichtet, bei der Markteinführung deren Zusatznutzen gegenüber vorhandenen Medikamenten zu begründen. Einem höheren Preis müsse auch ein entsprechender medizinischer Nutzen gegenüberstehen. Auf der Grundlage einer unabhängigen Bewertung dieses Nutzens verhandelten die Krankenversicherungen dann mit dem Pharmaproduzenten über den Erstattungsbetrag. Mit diesem Verfahren sei es möglich, den Patienten weiterhin einen schnellen Zugang zu innovativer medizinischer Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig die Kosten im Griff zu behalten. In diesem Fall könnten die USA von den deutschen Erfahrungen profitieren.
Deutschland könne vor allem im Bereich „E-Health“ oder Telemedizin – also bei der Anwendung moderner Informationstechnik im Gesundheitswesen – von den USA lernen. Auf diesem Gebiet seien die USA weiter als Deutschland. Bei einer flächendeckenden medizinischen Versorgung könne E-Health auch in Deutschland eine größere Rolle spielen als bisher. Das betreffe etwa die Überwachung von Diabetes-Kranken. Auch bei Beachtung des Datenschutzes biete E-Health erhebliche Chancen für die Einsparung von Kosten und bessere Versorgung.
In der anschließenden Diskussion mit den Gästen der Stiftung und im Rückblick auf seine Arbeit beim Center for American Progress betonte Daniel Bahr seine Überzeugung, dass ein besserer Austausch zwischen Politikern verschiedener Länder fruchtbar sei: Trotz und gerade wegen kultureller Unterschiede könne man voneinander lernen.
(FNF 27. 10. 2014)