
Als ich im Herbst 1986 nach Washington, DC kam, war die politische Welt in der Stadt noch in Ordnung. Gerade hatte der Senat einen erzkonservativen Juristen als Obersten Richter bestätigt. Antonin Scalia wurde trotz seiner politischen Ausrichtung von Präsident Ronald Reagan nominiert und in der Folge vom Senat bestätigt, da niemand an seinen juristischen Qualifikationen zweifelte.
Dreißig Jahre später zeigen die Reaktionen nach Scalias Tod, wie hyper-politisiert das US-Verfassungsgeflecht der „checks and balances“ geworden ist. Noch vor der Beerdigung des erzkonservativen Richters insistierten die Republikaner, dass Präsident Obama in seinem letzten Amtsjahr keinen Nachfolger für Scalia ernennen soll. Falls er dennoch einen Kandidaten ernenne, würde die republikanische Mehrheit im Senat Obamas Nominierung blockieren. Laut Verfassung hat ausschließlich der Präsident das Recht, einen Obersten Richter zu nominieren. Über dessen Nominierung wird dann im Senat beraten und abgestimmt. Scalia, der als Oberster Richter dafür bekannt war, die Verfassung bei seinen Entscheidungen wortgetreu zu interpretieren, würde sich bei dieser Auslegung der Verfassung – und der daraus resultierenden Blockadehaltung – im Grabe umdrehen.
Die politischen Eliten beider Parteien haben scheinbar noch immer nicht verstanden, was außerhalb von Washington, DC im Rest des Landes politisch passiert. Die erfolgreichen Vorwahlergebnisse von Donald Trump und Bernie Sanders sind eine direkte Reaktion auf die schon seit Jahren andauernde Selbstblockade zwischen Weißem Haus und Kongress. Mehr und mehr Menschen beschleicht das Gefühl, dass nichts mehr im politischen System funktioniert. So sind viele US-Bürger inzwischen der Meinung, dass sich die politischen Eliten in Washington, DC nicht mit den Problemen des Landes und seiner Einwohner beschäftigen, sondern nur mit sich selbst und dem Erhalt ihrer Macht. Es ist also kein Wunder, dass die US-Bürger den Respekt vor Politikern verlieren, da diese wiederum ihre Verantwortung für das Gemeinwohl aus den Augen verloren haben.
Bisher hat der Oberste Gerichtshof die zuletzt praktizierte Blockade nur von außen betrachtet. Jetzt wird der „Supreme Court“ zumindest für die nächsten 18 Monate in den politischen Morast mit hineingezogen. Der Schaden für die Verfassungsinstitution ist noch nicht absehbar. Hinter der republikanischen Blockadepolitik steht die Hoffnung, dass 2017 ein Republikaner ins Weiße Haus einzieht und der US-Senat in republikanischer Hand bleibt, um so einen konservativen Richter ins Amt zu berufen. Gelingt den Republikanern dieses Manöver nicht und sie verlieren sowohl die Präsidentschaftswahl als auch die Mehrheit im Senat, wird unweigerlich ein klar demokratischer Jurist zum Obersten Richter ernannt, der die Mehrheitsverhältnisse auf der Richterbank über Jahre verschieben würde. Somit wurde die Nominierung eines neuen Obersten Richters nicht nur zum Wahlkampfthema der Präsidentschaftswahl, sondern auch der anstehenden Senatswahlen.
Wer glaubte, dass der politische Prozess im Wahljahr 2016 nach den erstenVorwahlen bereits kompliziert genug sei, hat sich getäuscht. Nach dreißig Jahren Erfahrung als Beobachter der amerikanischen Politikszene hatte ich geglaubt, mich könne nichts mehr überraschen. Die vergangenen Wochen haben mich eines Besseren belehrt.
Claus Gramckow ist Repräsentant USA & Kanada des Transatlantischen Dialogprogramms der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Washington.